Gerne würde ich im selben Detaillierungsgrad wie in früheren Einträgen von meiner bisherigen Zeit in Bolivien berichten, doch es ist dermassen viel passiert, dass ich mich aufs Wesentliche beschränken muss. Meine ersten Begegnungen mit Bolivianern waren eher kühl und distanziert, Menschen drehten dich während dem sprechen von mir weg oder ignorierten mich komplett... ich machte mich also auf einen Stimmungswechsel gefasst. Und generell einen grundsätzlichen Wechsel: Mit einem BSP von unter 1000 USD ist Bolivien das ärmste Land Südamerikas, rund 60 % der acht Millionen Einwohner leben unter der Armutsgrenze, die Kindersterblichkeit ist mit fast 7 % die höchste des Kontinents. Meinen ersten Halt in Bolivien (abgesehen vom Busterminal in Santa Cruz) machte ich in Sucre, der einstigen Hauptstadt von Bolivien, deren Zentrum zum UNESCO-Welterbe zählt.

Ich begab mich direkt in das Hostal "Villa Oropeza", CHF 7.50.- / Nacht, ein echtes Bijou mit riesigem Garten, 3-stöckig, ruhig, zentral... und das beste: die Dusche! Unübertrieben wie zuhause, Wasser kann beliebig selber gemischt werden, es kommt ein steter Strahl, angenehmer Druck, viel Platz, eine Schiebetür... schlicht der Wahnsinn! So gönnte ich mir gleich eine Komplett-Reinigung inkl. Mani- & Pediküre und freute mich auf meine erste moskitofreie Nacht in den Anden, mit einer dicken Bettdecke bewaffnet (es war tatsächlich nur noch 15 Grad warm). Natürlich traf ich auf meinem Kopfkissen in allem Ernst eine Mücke an, doch sie war schnell beseitigt und hatte keine Freunde. Im Dormitorio war ein Pärchen am Uno-Spielen, zwei Lausanner ;) Isabelle und Alain, es waren die ersten Schweizer, die ich auf meiner Reise antraf. Mein anfängliches Unbehagen, wie meine Reise nun weitergehen soll und die damit verbundene Angst vor Einsamkeit verwandelten sich nach Akzeptieren des Zustandes glücklicherweise schnell in Lebensfreude und neue Kraft. So traf ich weiter auf Jamie, einem Engländer aus nähe London, auf die Französin Tiphaine und Angi aus Zürich. In dieser Konstellation verbrachten wir praktisch alle Tage in Sucre gemeinsam, oft mit Französisch oder Englisch kommunizierend, und beim Kartenspiel (UNO, President-Troudecul, Shithead):

Während den Tagen in Sucre gelang es mir, zwei drei musikalische Happenings aufzugleisen:
Über ein paar Ecken landete ich auf einmal im Probelokal der hierzulande weitherum bekannten Band "Los Masis" - sie touren auch regelmässig durch Europa, einige sprachen ein paar Worte Deutsch - und durfte ein paar Lieder mit einem Bongo und zum Teil auch Gesang begleiten. Dank Jamie gibt es Video-Aufnahmen, hatte ihn spontan mitgenommen. Nach der Probe sassen wir noch gemütlich mit der Band zusammen, übten uns im Spanisch und lernten viel über Kultur und Mentalität kennen... was für ein Highlight!
Ich nahm mir schon vor der Anreise in die Berge vor, eine authentische Anden-Panflöten-Stunde aufzuspüren... und fand im Chef der "Los Masis", Roberto Senor aka Tata (im Video der alte Mann in der Mitte, auf dem Poster der 4. von links), einen Zampoñas-Lehrer (so werden die Panflöten hier genannt). Er hatte nichts dagegen, mich an einer Unterrichts-Stunde mit Kindern (sie finden jeweils Mo-Fr von 7-8 Uhr statt) teilnehmen zu lassen, allerdings brauchte es drei Anläufe! ;)
Am Donnerstag kreuzte ich vergebens auf, er war gar nicht da... doch sein Stv liess mich nicht mit leeren Herzen davon ziehen und bat die Schüler, mir doch ein Lied vorzuspielen. Ich war zutiefst berührt ob der Privat-Darbietung!
Am Freitag war Tata zwar da, aber er meinte der Zeitpunkt stimme nun doch nicht, da sie ein neues Stück beginnen und nur Hörstunde haben würden. Ich könne nichts spielen. Jamie und ich zogen wieder von Dannen.
Am Montag - es war die letzte Gelegenheit für mich, denn ich reiste eine halbe Stunde nach dem Unterricht wieder ab - drängte ich mich zusammen mit Angi dann stinkfrech einfach in den Unterrichtsraum hinein (Collage oben links). Tata meinte wiederum, ed gebe zu wenig her, das neue Stück sei noch nirgends... aber ich liess mich nicht mehr abwimmeln ;) Wir wurden Zeugen von einem diktatorisch-patriarchisch-archaischem Unterrichtsstil, teilweise konnten wir das Lachen vor lauter Absurdität (z.B. wenn er den gleichen Schüler - obwohl dieser gleich zu Beginn das Vergessen des Schülertheks entschuldigte - wiederholt erzürnt aufforderte, sofort sein Heft zu holen und Notizen zu machen oder wenn man jeweils seine Schimpftiraden sitzend vom Sofa aus vor lauter Cocablättern im Mund nicht verstand) nicht mehr unterdrücken! Nichtsdestotrotz hat sich der Einblick mehr als gelohnt, ich glaube nach wie vor tief im Herz ist Tata ein herzallerliebster Mensch! Aber auf einer Zampoña gespielt habe ich immer noch nicht ;) Hier ein Ausschnitt der Übungslektion, mit geschlossenen Augen und in meditativer Pose mussten wir das Lied memorisieren, zuerst mit Audio, danach ohne.
Wir - Alain, Jamie und ich - haben ein Konzert der Band "Carlos Arancibia" (Collage u.r.) besucht, war sehr authentisch und vertraut... zufällig bin ich während der Pause auf dem richtigen Stuhl (=Bandtisch) abgesessen und nun befreundet mit den drei Musikern ;)
Wir - Tiphaine, Isa, Alain und ich - besuchten einen Musik & Tanz-Abend, ein Querschnitt durch die Tradition des ganzen Landes. War super spannend, nur das inbegriffene Essen lies leider zwei Stunden zulange auf sich warten 😏

Seit 1994 während Bergbauarbeiten plötzlich in einer tieferen Sedimentsschicht Dinosaurier-Spuren auftauchten, ist "Cal Orcko" (Parque Cretácico) weltbekannte. Auf einer 1200 breiten, 80 Meter hohen und 70 Grad steilen Wand (das Terrain war früher eine Uferregion eines Sees, bevor es austrocknete, verhärtete und sich vor ca. 65 Mio. Jahren aufgrund Plattentektonik aufrichtete) sind hier tausende Fussabdrücke von über 290 Dino-Arten zu finden - leider auch etwas unnötige Plastik-Repliken, aber gehörte eben zum Eintritt dazu. Ich fühlte mich demütig jung und genoss die Gedankenspiele, wie die Riesenviehcher hier einst rummarschierten. Noch mehr amüsierte mich der vom Guide José präsentierte Dinowalk ;)

Den Sonntagmorgen verbrachte ich am Textilmarkt von Tarabuco, wo ich mich für die bevorstehende Tour durch das Hochland von Tupiza nach Uyuni gleich mit verschiedensten Utensilien eindeckte: Alpaca-Pullover, Mütze, Mini-Panflöte für Perspektivenfotos und in Sucre dann auch noch gebirgstauglichen Schuhe (kosten hier einen Bruchteil von 🇨🇭). Die alte Frau auf dem Foto schlich sich plötzlich an einem Stand von hinten an mich heran und als ich ziemlich erschrak, brach sie in Gelächter aus... dafür gabs einen Schnappschuss ;)
Zurück im Hostal schaltete ich kurz den Fernseher ein und wurde tatsächlich noch Zeuge von der Siegerehrung von Roger Federer in Miami! Erholte mich kaum! Danach hongs weiter an ein Fussball-Spiel: Sucre - LaPaz, oder Tabellenzehnter (von 12) gegen Tabellenerster. Die Stimmung war genial, nonstop zogen Gewitterwolken und Blitze am Stadion vorbei, doch wir blieben trocken und feierten zügig mit. Falls euch jemand bekannt vorkommen sollte: Vor dem Spiel habe ich doch tatsächlich Ellie und Luis aus Bonito (Velotour zur Gruta Azul) wieder getroffen, so verabredeten wir uns gleich für den Match. In Erinnerung bleibt mir Ellie, die auf die Gewitterstimmung abgesprochen meinte: "Electrifying one might say!" ;) Ahja, Sucre gewann tatsächlich 2-1, bis vier Minuten vor Schluss stand es sogar 2-0... und wir sassen in der Südkurve (die hiess wirklich Curva Sur, Eintritt 3 Franken!)) von Sucre, Glück gehabt 😅

------------------------------------------------------------- Am nächsten Tag gings dann los in Richtung Tupiza - Tiphaine und ich buchten eine 4-Tages-Tour, zwei weitere Gäste sollten vor Ort nich dazustossen. Die Busfahrt war verheerend - ein Höllenritt durch die Anden:
Abfahrt um 20:30 Uhr, geplante Ankunft um 4 Uhr Morgens
Obwohl ich versuchte stets darauf zu achten, traf ich prompt die Hinterachse mit meinem Sitz
Es war mein erster Bus ohne Sitzgurt Liegen war nicht möglich, die Sitze blieben aufrecht
Jede Bodenwelle (ca. im Viertelstundentakt) katapultierte mich etwa 10cm aus dem Sitzpolster, ganz ihrem Namen gerecht werdend in einer vollendeten, wellenförmigen Bewegung von unten Fuss bis oben Kopf
Nach jeder Runde landete ich wieder etwas weiter unten im Sitz
Bei den meist abrupten Bremsmanövern hatte ich jedesmal das Gefühl, unter den Vordersitz zu verschwinden
Auf der Höhe meines Fensters der wie ein furzender Blauwal röhrende Auspuff
Keine Heizung im Bus und die Kälte auf der je länger je höheren Fahrt war beissend: zum Glück hatte ich meinen neuen Alpacapullover im Handgepäck
Hatte nonstop mit Ohrendruckausgleich zu kämpfen
Kein WC im Bus. Versprochen wurden drei Stopps, es gab dann einen, mitten in der Nacht, auf einer Müllhalde. Jeder sucht sich ein Plätzchen, ohne viel Versteck, egal ob Mann oder Frau
Tiphaine meinte danach: "La meilleure Pipi du monde ;)"
Fazit: Schlaf? Fehlanzeige! ;)
Ankunft war dann um 5 Uhr, kam uns aber entgegen, denn die Tour ging erst um 7:30 Uhr los
So spielten wir am Terminal 2 Stunden Karten und versuchten uns mit Kaffee zu wärmen
Die Tour begann dann pünktlich mit 1.5 Stunden Verspätung ;) aber egal, die Vorfreude war nicht zu trüben. Und als wir die beiden warmherzigen und humorvoll aufgestellten Begleiterinnen Anne-Claire und Angelique - ebenfalls aus Frankreich - traffen, stand dem Abenteuer definitiv nichts mehr im Wege. Habe die Bilder in eine Slideshow gepackt und erzähle hier der Reihe nach:
Unser Guide Cristóbal (40, Papa von 2 Kindern) war sehr freundlich zurückhaltend, wusste schlicht über alles Bescheid, putzte, kochte, fuhr, half, lachte... ein Volltreffer, unser Dschinni aus der Flasche!
Wir tauchten ein in bizarrste Landschaften und höchste Höhen, einer der ersten Vulkan-Berge erinnerte mich stark an den Federispitz im Glarnerland ;)
Besuch im Pueblo Fantasma auf 4690 Meter (war mein erstes Mal im Leben über 4000 Meter!), eine frühere Minenstätte, die die Spanier dann auslöschten.
Ich probierte Coca-Blätter aus - sie sind eher bitter, aber sollen ja gut sein gegen die Höhe und Konzentration fördern. Ehrlich gesagt mochte ich sie, ob sie wirklich geholfen haben weiss ich nicht, aber auf jeden Fall hatte ich nie Höhenprobleme 👌🏻
Wir übernachteten in einem kleinen Refugio in Queteña Chico, auf 4200 Meter, mit ca. 10 Wolldecken ;)
Am nächsten Morgen Besuch von einem Lama-Hof. Hier gab es nur Llamas und Vicuñas, die andern Typen existieren hier nicht
Bad in einer 40-grädigen Therme (mit Unterwasserkamera von Tiphaine ;))
Zeit für Party im Jeep ;)
Lagunen und Mineralseen mit Abbau von Borax und C'olpa (Mineral für fie Herstellung von Champú)
Laguna Verde am Fusse des majestätischen Vulkans "Licancabur"
Mittagessen auf 4500 Meter inkl. höchstem Outdoor-WC 😉
La Teta de Pachamama con Picasso (der malerische Berg mit der "Brust" in der Mitte)
Geysiere "Sol de Mañana" auf 5000m, höchster Punkt der Tour, 160 Grad heiss, mit beissendem Schwefelgestank!
Laguna Colorada, Farbe aufgrund roter Algen, Heimat vieler Flamingos
Übernachten im Refugio Villa Mar, Abendessen mit Wein und Schoggi (habe Schoggitafeln aus Sucre - Chocolate para ti ;) - mitgebracht, waren alle drei köstlichst!)
Verschiedene Gesteinsskulpturen: Copa del Mundo, Camello, Italia Perdida, Corazon, Anaconda-Valley
Quinoa-Plantage
Laguna Negra (schwarze Algen)
Übernachtung im Hostal de Sal
Sonnenuntergang über Salar de Uyuni
Abschiedsnachtessen mit Apérogetränk
Fader Beigeschmack des dritten Tages:
Ich wachte mit migräneartigen Kopfschmerzen auf
Nach Panadol wanderte der Chnorz in den Bauch, verursachte den ganzen Tag Krämpfe & Blähungen
Fühlte mich wie das tote Krokodil im Pantanal, mit einem Nadelstich wäre ich geplatzt
Musste ganzen Tag rülpsen und furzen, alles roch nach Schwefel
Angelique hatte mich mit Medis versorgt, überhaupt kümmerten sich alle fürsorglichst um mich
Mitte Nachmittag dann endlich das erlösende Erbrechen
Ein paar Stunden Ruheposition und am Abend noch ein wenig Durchfall, dann war der Spuck vorbei
Nach langem Analysieren kamen wir in der Gruppe zum Schluss, dass es wohl eines der Eier vom Vorabend gewesen sein muss 🤢
Nächsten Morgen Tagwache um 4 Uhr
Fahrt in Salar de Uyuni - die grösste Salzwüste der Erde: 12000 km2 Fläche, 145 Meter Tiefe, 1cm Wachstum pro Jahr (Höhe & Breite)
Besuch der Isla Incahuasi, mit Sonnenaufgang auf dem 1. August-Platz und haushohen Kaktussen mit teilweise etwas perversen Formen ;)
Frühstück am Salztisch
Zeit für die berühmt-berüchtigten Perspektiv-Fotos. Wir haben alles gegeben, Anne-Claire ist Kamerafrau bei France 3, aber irgendwie wollten die meisten Ideen nicht so klappen wie vor dem geistigen Auge :( ein paar lustige Videos sind doch zusammengekommen: Video 1, Video 2, Video 3, Video 4, Video 5
Besuch des alten Salzhotels mit Flaggen, zufällig genau in der Anordnung meiner bisherigen Reise (von unten links nach oben rechts: Schweiz, Argentinien, Brasilien, Bolivien)
Grösster Eisenbahn-Friedhof der Welt, aus alten Mineur-Zeiten (Minerale, Salz, Silber, Gold)
Abschied von Cristóbal, AC und Gigi :(
Dies als Zusammenfassung der Tour. In einem Wort - und in beiden Sinnen des Wortes - wäre es wohl: atemberaubend!!! Solche Landschaften habe ich noch nie bestaunen dürfen, ich fühlte mich überglücklich, privilegiert, dankbar und winzig zugleich!
Fazit der ersten Tage in Bolivien:
Stimmungswechsel? Fehlanzeige! ;)
Mein Französisch ist wieder etwas poliert, dafür hat das Spanisch etwas gelitten.
Pachamama lässt mich in Demut weiterziehen!
Nun bin ich gespannt auf die Atacama-Region und umarme euch alle aus dem Hochland, hasta luego 👋🏻